Zehn Minuten über Politik und Moral

17. Juni 2020

Rede zur Wahlkreisversammlung CDU am 17.06.2020

Sie und ihr kennt das: „Rauchen? Das ist asozial! – Ein Einfamilienhaus auf einem so großen Grundstück? – Unanständig! Fleisch? Wer isst denn heute noch Fleisch? Das geht ja gar nicht! – Hecken schneiden, keine Blühwiese anlegen, Rasenmähen? Unmöglich!“.

Moralische Ansprüche und gegenseitige Vorwürfe werden zunehmend öffentlich debattiert – naturgemäß gerade in Zeiten des Wahlkampfs.

Deutschland ist in diesen bewegten Zeiten ein moralisch aufgedunsenes Land. Unsere Gemeinde Nottuln ebenso. 

Doch weil Moral und Wertevorstellungen zu wertvoll sind, um damit verschwenderisch umzugehen, möchte ich zwei Fragen stellen: 

1.) Wie sind wir zu diesem Zuviel gekommen? 

und 

2.) Was können Politik und ein Gemeinderat, was können Politik und die Verwaltung dagegen tun?

In unserer fortgeschrittenen liberalen Gesellschaft darf heute jeder seine Ansprüche anmelden. Dabei dürfen auch abweichende moralische Auffassungen vorgebracht werden. Mit dem Internet und den sozialen Medien hat jede und jeder die Mittel an der Hand, dies auch jederzeit und ungefiltert zu tun. Kommunikativ war die Öffentlichkeit noch nie so gleich wie heute. Allein damit ist schon mehr Moral im öffentlichen Raum. 

Doch liegt der eigentliche Effekt nicht darin, dass Menschen nun öffentlich Managern sagen können, Managergehälter seien obszön, den Rauchern, Rauchen sei asozial, und auch nicht darin, dass Menschen sich für ein Leben auf mehr als 30m2 pro Person entschuldigen müssen. 

Der größte Effekt liegt darin, dass die herrschenden Verhältnisse ihre Selbstverständlichkeit verlieren. Einfamilienhäuser bauen, Auto fahren, viel fliegen, Tiere töten und essen und vieles mehr brauchte jahrzehntelang kaum begründet zu werden. Es war eingehüllt in eine gewisse Selbstverständlichkeit. Die moralischen Urteile mussten als solche gar nicht hervortreten: Normalität ersetzte weithin Normativität.

Heute allerdings entlockt die öffentliche Diskussion dem Gewohnten seine Selbstverständlichkeit. Wenn einer sagt, es ist nicht legitim, Tiere zu töten und zu essen, dann muss ausgesprochen werden, was ungesagt viel bekömmlicher war: Doch ja, es ist legitim, Tiere zum Essen zu töten. 

Wenn eine sagt, sie möchte ein Einfamilienhaus mit großem Grundstück bauen, dann ist auch das aufwändig zu begründen. 

Wenn einer sagt, es ist moralisch nicht vertretbar, den Rasen zu mähen und keine Blühwiese im Garten zu haben, dann muss auch das begründet werden. 

Auf breiter Front wird gewissermaßen der „ethische Permafrost“ dieser Gesellschaft aufgetaut: was Normalität war, wird plötzlich Moral.

Wie lässt sich nun aber der öffentliche Raum entmoralisieren, wie bekommt man wieder mehr Luft, mehr Humor, mehr Stil, Kultur und vielleicht eine neue Leichtigkeit hin? 

Wir müssen erstens die Vertreibung aus dem „Paradies der Selbstverständlichkeit“ und auch das ökologische Mandat akzeptieren. Dagegen anzureden und loszuschimpfen verstärkt nur den Effekt.

Zweitens sollten wir mehr über Dinge reden und debattieren anstatt sie in „Moralin forte“ zu kondensieren. Es muss wieder mehr einen Wettbewerb um Lösungen geben!

Noch wichtiger ist jedoch etwas Drittes: die Rückverwandlung dieser Art von Moral in Politik – eine Veränderung von moralischer Entrüstung in aktives politisches Handeln.

In den letzten Jahren ist in Nottuln wahrnehmbar die Kluft zwischen den realen Problemen und der Politik größer geworden – bei den Themen Baulandentwicklung, Gewerbeansiedlung, Digitalisierung, Mobilität, Klimakrise und in vielen anderen Bereichen. In dieser Lücke zwischen Problemen und Politik machen sich nun Moraldebatten breit: Insbesondere bei der Ökologie erhöht das Fast-nicht-Handeln den Druck auf den Konsumenten, den Landwirt, den Autofahrer oder den Bauherrn. 

Die Moralisierung des privaten Handelns ist ein direkter Reflex auf die Entpolitisierung der Politik. Manches muss klar reguliert oder einfach verboten werden, damit die Bürgerschaft von ethischen Debatten entlastet wird. Einen klaren Kompass, eine Orientierung und einen Rahmen für unser politisches, christliches, soziales und ökologisches Handeln zu erarbeiten – das ist unsere Aufgabe!

Moralische Debatten gehen nicht so leicht zu Ende. Sie sind auch nicht mit einem Kompromiss aus der Welt zu schaffen. Politik hingegen hat beides: Kompromiss und Entscheidung. Deshalb kann Politik eine Last auf sich nehmen und kann diese Last den Bürgerinnen und Bürgern von der Seele nehmen. 

Genau das ist Ihre und eure Aufgabe!

Genau das ist (hoffentlich bald) unsere gemeinsame Aufgabe: zuhören, entscheiden und handeln!

Wir – gemeinsam für Nottuln!

Aufwind für Nottuln!