Rede zum Volkstrauertag 2021

15. November 2021

Wir denken heute – so wie schon seit 99 Jahren – an die 9,4 Millionen Toten der beiden großen Kriege des 20. Jahrhunderts. Dieses Gedenken ist in allen Ortsteilen unserer Gemeinde zu einer guten Tradition geworden und es ist noch mehr: Es ist eine humanitäre Verpflichtung! So auch heute hier an der Versöhnungskapelle in Nottuln. Es sind keine leeren Rituale. Diese Feier ist ein fester Bestandteil unseres Gemeindelebens. Denn erst das gelebte Bekenntnis zur Vergangenheit macht uns zu dem, was wir sind. Das gilt auch und vor allem für die dunklen Seiten der Geschichte. Wir können sie nicht abstreifen, nicht vergessen oder verdrängen – das würde bedeuten, unsere eigenen Wurzeln abzuschneiden.

Es gibt in Europa zahllose Stätten, die an die Grausamkeit und Zerstörungen der Kriege erinnern, aber auch an den Holocaust und die Verbrechen an Kriegsgefangenen und Angehörigen von Minderheiten. Viele dieser Erinnerungsorte sind längst aus unseren Blicken geschwunden. Sie sind versunken in scheinbar unschuldigen Landschaften oder wurden überwuchert von Gras, von Büschen und Bäumen. Nicht so hier. Dieser Gedenkort ist mitten im Leben, mitte in unserem historischen Ortskern. Wie oft gehen wir hier vorbei? Und immer bittet dieser Ort selbst um eine kurzes Memento. 

Wir gedenken nicht nur der Toten der Kriege, sondern auch der Ermordeten, der Juden, Sinti und Roma, der Widerstandskämpfer und der zahlreichen anderen Opfer, die anonym und gesichtslos geblieben sind. Umso wichtiger ist es, in dieser Gedenkfeiern nicht nur an die gefallenen Soldaten der ehemaligen Kriegsgegner zu erinnern, sondern auch an die Menschen, die jahrelang an den Rand gedrängt und verschwiegen wurden. Die Topografie des Terrors ist viel größer als wir das hier und heute auch nur erahnen können. 

Nicht selten hören wir immer noch die Sprache der Verachtung und des Hasses, oder der Abgrenzung gegenüber dem Anderen. Trotz aller schlimmen Erfahrungen mit dem Krieg und seinen Folgen sind diese Reden keineswegs für immer verstummt. Im Gegenteil, sie scheinen gerade heute erneut an Überzeugungskraft zu gewinnen. Ein Blick auf die politische Landkarte Europas zeigt das nur zu deutlich. Wir erleben europaweit ein Erstarken jener verhängnisvollen Ideologien. 

Die daraus hervorgehenden Propagandamuster haben vor einem Dreivierteljahrhundert den Kontinent beinahe in den Abgrund gerissen. Es ist besorgniserregend, dass wir aus den Katastrophen der Vergangenheit offenbar wenig gelernt haben. 

Das dürfen wir nicht achselzuckend hinnehmen. Es handelt sich nicht um ein bedeutungsloses Versehen. Gleichgültigkeit und Wegsehen sind ein idealer Nährboden für die neuen radikalen Nationalismen, gepaart mit Fremden- und Demokratiefeindlichkeit, die uns solche Sorge bereiten. Dazu gehören die schamlosen Rückgriffe auf die giftigen Strömungen der Vergangenheit, auf faschistische und neo-nazistische Gruppierungen und Parteien, die wütend alles bekämpfen, was nicht in ihr enges Weltbild passt: Andersdenkende und Menschen anderer Herkunft, Hautfarbe oder sexueller Orientierung.

Diese Entwicklungen sind überall auf unserem Kontinent und weit darüber hinaus zu beobachten. In manchen Ländern, wie etwa in Ungarn und in Polen, haben sie sich bereits weitgehend durchgesetzt und prägen sogar die offizielle Politik. Selbst in scheinbar gefestigten Demokratien wie Schweden, Dänemark, den Niederlanden, Frankreich, Italien, in Polen, aber auch Deutschland und Österreich, gehören nationalistische und rechtspopulistische Töne und Aktionen längst zum gängigen politischen Diskurs.

Manchmal könnte man meinen wir kämpfen gegen Windmühlen. Doch Pessimismus und Resignation sind keine guten Ratgeber. Wir dürfen nicht verzagen. Wir müssen all unsere Kräfte aufbieten und uns dem Vergessen und Verdrängen entgegenstemmen. Auf diese Weise können wir die liberale Demokratie vor Schaden bewahren. Wenn wir an den Krieg denken, dann haben wir immer auch die Demokratie vor Augen. Denn sie ist der wichtigste Schutz gegen solche Entwicklungen. 

Unser Gedenken an den Krieg und seine Opfer ist also fest verbunden mit dem Kampf um die Demokratie. Die Vergangenheit hat uns gelehrt, wie schnell eine Demokratie am Ende ist und abgeschafft werden kann. Das dürfen wir nicht zulassen, dagegen müssen wir uns mit allen Mitteln wehren, wenn wir unsere Freiheit bewahren wollen. Gedenken spielt dabei eine wichtige Rolle, denn es schärft unseren Blick und unsere Sinne. Es ist ein Warnruf, ein immer neuer Anstoß, uns der Vergangenheit zu stellen und sie lebendig zu halten. Das sind wir sowohl den Opfern schuldig, als auch auch uns selber und unseren Nachkommen.