Ursula Gerson (1936-1944)

11. März 2020

Liebe Ursula,

dir zu schreiben, fällt mir besonders schwer, weil mich deine Geschichte traurig und wütend macht: Du hättest so ein glückliches Leben in Nottuln haben können, wurdest aber mit acht Jahren von den Nationalsozialisten ermordet. Was hat Menschen nur dazu angestiftet, dich und deine Familie umzubringen? Deine kurze Lebensgeschichte mahnt uns, wachsam zu sein.

In Münster bist du im Sommer 1936 zur Welt gekommen. Deine Eltern lebten mit dir dann in Nottuln, im Haus deiner Großeltern, der Familie Lippers, am Kirchplatz. Dort führten sie ein Manufaktur- und Galanteriewaren-Geschäft. Ihr wart eine alteingesessene jüdische Kaufmannsfamilie, die es schon lange in Nottuln gab; seit dem 17. Jahrhundert habt ihr das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben im Ort mitgeprägt. Deine Eltern und 

Großeltern konnten zwar in der Zeit der  beginnenden Verfolgung das Haus vor einer Beschlagnahmung retten, für deine Familie wurde es aber wegen der antisemitischen Anfeindungen immer gefährlicher, in Nottuln zu leben. Dein Vater hatte schon im März 1933 Probleme mit der Polizei bekommen, weil er angeblich eine Hakenkreuzfahne vom Kranz an einer Kapelle entfernt hat. Dafür wurde er dann elf Tage in „Schutzhaft“ genommen. Während der Novemberpogrome wurde dein Großonkel Erich Stehberg inhaftiert und das Haus der Familie verwüstet. Als Männer aus dem Ort euer Geschäft demolierten und vor deinen Augen die Fensterscheiben einschlugen, warst du noch keine drei Jahre alt. Wie grausam!

Dein Vater konnte dann im Mai 1938 in die Niederlande fliehen. Deine Mutter und du, ihr wurdet zunächst an der Ausreise gehindert. Am 1. Juni 1939 konntet ihr aber endlich in die Nähe von Zwolle reisen. Um der Deportation zu entgehen, seid ihr im September 1942  in den Untergrund gegangen. Ihr habt euch auf einem Landgut versteckt und die Fahndung nach euch verlief erst einmal im Sande. Dann aber wurdet ihr Anfang September 1944 verraten. Man hat euch verhaftet und anschließend mit demselben Transport nach Auschwitz gebracht wie die Familie Frank – das Tagebuch der Anne Frank ist für uns ja bis heute ein erschütterndes Zeugnis. Es war der letzte Zug in Richtung Auschwitz.

Zur Erinnerung an dich und deine Familie hat die Gemeinde sechs kleinen Messing-Tafeln in den Gehweg am Kirchplatz 4 eingelassen.

Ich möchte, wenn ich Verantwortung für unsere Gemeinde bekomme, in jedem Fall dafür sorgen, dass wir eine offene Gesellschaft bleiben und dass wir unsere eigene Geschichte nicht vergessen. 

Deine Geschichte ist kein „Fliegenschiss“, sondern ist uns Mahnung. Wir brauchen eine Kultur des offenen Miteinanders. Dabei darf und soll durchaus gestritten werden, auch leidenschaftlich. Es muss dabei aber immer um ethische Ziele gehen – nicht um Gewinnen oder Verlieren und schon gar nicht um Ausgrenzen. Wir müssen uns bemühen, den sozialen Frieden zu gestalten. Wenn wir sehr unterschiedliche religiöse, soziale und kulturelle Lebensweisen haben, dann ist es einfach zu wenig, das nur nebeneinander aushalten – Vielfalt ist eine Bereicherung und eine Chance! Es sind die vermeintlich einfachen Lösungen, die eine Gefahr für unsere Gesellschaft darstellen, früher und heute. Ich liebe unsere bunte Gemeinschaft in Nottuln. Unsere Vereine und gesellschaftlichen Gruppen sorgen dafür, dass wir uns miteinander und auch mit anderen verbinden können. Ich positioniere mich sehr klar für Vielfalt und weiß, dass diese Haltung und diese Werte unter der Nazi-Herrschaft unterdrückt wurden. Unsere Vereine mit ihren Traditionen und viele gesellschaftliche Gruppen sorgen dafür, dass wir uns miteinander und auch mit anderen verbinden können. Das möchte ich weiter fördern und unterstützen.

Allerdings bleiben Fragen, die ich gerne beantwortet hätte: Die Geschichte der Nazis in Nottuln, der Reiterstaffel der SS in Stevern – all dies ist nicht ausreichend aufgearbeitet; man schweigt. Und wer denkt bei deiner Geschichte nicht auch darüber nach, wie wir heute mit Flüchtlingen umgehen? Ist unser Schweigen zu den Lagern auf Lesbos und zu dem Massengrab im Mittelmeer nicht unerträglich? Und was kann unsere Gemeinde für Integration tun? Wir müssen gemeinsam darauf achten, dass es ausreichend Wohnraum für Geflüchtete auch außerhalb der Unterkünfte gibt.

Wie gerne hätte ich dich kennengelernt, liebe Ursula. Du wärest nun eine alte Dame mit grauem Haar und hättest vielleicht schon Enkel oder sogar Urenkel, die ein schöner Mosaikstein in Nottulns Gesellschaft wären. So bleibt uns leider nur ein schimmernder Stolperstein, der uns mahnt.

Mit Grüßen von Herzen

dein ergebener